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Warum der Kurswechsel in Deutschland besondere Aufmerksamkeit verdient

Nicolas Wylenzek, Macro Strategist
2024-09-30
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Die zum Ausdruck gebrachten Ansichten sind diejenigen des Autors bzw. der Autorin zum Zeitpunkt der Verfassung dieses Dokuments. Andere Teams können andere Ansichten vertreten und andere Anlageentscheidungen treffen. Der Wert einer Anlage kann gegenüber dem Zeitpunkt der ursprünglichen Investition steigen oder sinken. Von externen Anbietern stammende Daten werden zwar als verlässlich erachtet, doch gibt es keine Garantie für ihre Richtigkeit. Nur für professionelle, institutionelle oder zugelassene Anleger.

Europa sieht sich heute mit einer Reihe von Gegenströmungen konfrontiert, die meiner Meinung nach von Anlegern genau beobachtet werden sollten. Deutschland, der Wirtschaftsmotor Europas, steht in vielerlei Hinsicht sinnbildlich für diese potenziell folgenschweren Veränderungen – seien es das jüngste Erstarken der extremen Rechten oder die mit der Energiewende verbundenen Herausforderungen.

Während meines jüngsten Besuchs in Deutschland haben meine Gespräche mit hochrangigen Vertretern von Regierung und Opposition, Denkfabriken und Industrieverbänden die Auswirkungen dieses sich rasch verändernden politischen und regulatorischen Umfelds deutlich gemacht. In diesem Beitrag untersuche ich die mögliche Neuausrichtung, die in Deutschland sowie Europa im Allgemeinen im Gange ist, und erörtere die potenziellen Folgen für Anleger.

Eine Abkühlung der Konjunktur 

Europa steht eindeutig vor konjunkturellen Herausforderungen: Die Wirtschaft steht am Rande einer Rezession, und die Stimmung in den Unternehmen ist extrem schlecht. Die Straffung der Geldpolitik wirkt sich allmählich auf die Wirtschaftstätigkeit aus, und Europas internationale Verflechtungen und die große Zahl zyklischer Unternehmen machen es anfällig für die stockende Erholung der chinesischen Wirtschaft. Deutschland ist von diesen Belastungen besonders stark betroffen, und das Land ist im ersten Quartal in eine technische Rezession abgeglitten. Die Abhängigkeit von teuren Energieimporten und ein zunehmend angespannter Arbeitsmarkt dürften das Wachstum auf Jahre hinaus belasten. 

Der Konsens in meinen Gesprächen war jedoch überraschend positiv: Die meisten politischen Entscheidungsträger gehen davon aus, dass sich die deutsche Wirtschaft in der zweiten Hälfte dieses Jahres erholen wird. Insbesondere für den deutschen Konsumsektor sind die Aussichten für die nächsten zwölf Monate besser, da sich die Inflation verlangsamen, die Reallöhne steigen und die Stromkosten weiter sinken dürften. 

Der Druck der Deglobalisierung 

Um auf globaler Ebene konkurrenzfähig zu bleiben, muss Deutschland seine Industriewirtschaft erhalten und gleichzeitig die Energiewende vorantreiben. Die deutsche Politik scheint sich der Tatsache bewusst zu sein, dass in den USA der Inflation Reduction Act und der CHIPS and Science Act eine größere Wirkung zeigen als die derzeitigen europäischen Initiativen, obwohl der Finanzierungsbetrag sehr ähnlich ist. Mich ermutigt, dass die Regierung Maßnahmen wie einen direkten Dialog mit Unternehmen ergreift, um Investitionen in Deutschland zu fördern (z.B. Subventionen für den Bau von Halbleiterproduktionsanlagen), die Unternehmenssteuern senkt, sich an Netzbetreibern beteiligen will, um die Modernisierung der Stromnetze zu beschleunigen, und plant, den bürokratischen Aufwand für Projekte im Bereich der erneuerbaren Energien deutlich zu verringern. Dies sind Schritte in die richtige Richtung, es ist jedoch unklar, ob sie ausreichen werden. 

Bei meinen jüngsten Gesprächen ist auch deutlich geworden, dass die Abkopplung von China parteiübergreifend höchste Priorität hat. Allerdings scheinen sich die deutschen Unternehmen in dieser Hinsicht langsamer zu bewegen, als es der Politik lieb ist. Da sich Europa letztlich an den USA orientiert, glaube ich, dass europäische Unternehmen, die stark in China engagiert sind, einige schwierige Jahre vor sich haben könnten. 

Anhaltender Arbeitskräftemangel 

Auch wenn der Zustrom ukrainischer Flüchtlinge und die verstärkte Zuwanderung seit der Aufhebung der COVID-Reisebeschränkungen die Spannungen etwas gemildert haben, steht Deutschland – wie auch das übrige Europa – unter erheblichem demografischem Druck. Da die Zuwanderung jedoch von großen Teilen der Wählerschaft zunehmend als Problem gesehen wird, rechne ich damit, dass sich der derzeitige Arbeitskräftemangel noch verschärfen wird, wenn ältere Arbeitnehmer in Rente gehen. Dies könnte die Löhne in die Höhe treiben, da die Arbeitnehmer mehr Verhandlungsmacht haben. Allerdings könnte es auch die Automatisierung und Produktivitätssteigerung beschleunigen.

Eine komplexe Energiewende

Deutschland und Europa insgesamt stehen nicht nur in einem harten globalen Wettbewerb um Investitionen in erneuerbare Energien, sondern auch in einem globalen Wettlauf um den Zugang zu den für eine erfolgreiche Energiewende notwendigen Rohstoffen, seien es Seltene Erden, kritische Mineralien, Batterietechnologien oder Chemikalien für die Herstellung von Solarzellen. 

Eine weitere große Herausforderung ist die Umsetzung möglicherweise unpopulärer und kostenintensiver klimapolitischer Maßnahmen im Inland vor dem Hintergrund einer Lebenshaltungskostenkrise, die in Deutschland bereits zu massiven Protesten geführt hat. 

Ein politischer Rechtsruck

In den letzten 18 Monaten hat die extreme Rechte in Europa erheblich an Zuspruch gewonnen, was auf die oben genannten Bedenken zurückzuführen ist, aber auch auf das schwindende Vertrauen in staatliche Institutionen als Reaktion auf die Pandemiepolitik, die steigende Inflation und kontroverse soziale und kulturelle Fragen. Da diesbezüglich kurzfristige Lösungen unwahrscheinlich sind, gehe ich davon aus, dass sich dieser politische Trend in den nächsten zwölf Monaten fortsetzen und angesichts der zahlreichen anstehenden Regional- und Nationalwahlen sowie der Europawahlen möglicherweise sogar verstärken wird. 

Selbst wenn die Parteien im extrem rechten Spektrum nicht an die Macht kommen sollten, dürften Stimmengewinne ihrerseits die Mitte-Rechts-Parteien in ihrer Politik weiter nach rechts rücken lassen. Darüber hinaus hat der rasche Anstieg der Zinssätze wenig Spielraum für zusätzliche öffentliche Ausgaben gelassen, um die steigenden Lebenshaltungskosten auszugleichen, sodass rechtspopulistische Parteien von der derzeit schwierigen Wirtschaftslage profitieren können. Jüngste Umfragen zeigen, dass die deutschen Wähler einen deutlichen Rechtsruck vollzogen haben und die rechtsgerichtete Alternative für Deutschland (AfD) großen Zuspruch erfährt. Dies spiegelt auch Entwicklungen in anderen europäischen Ländern wider. Die aktuelle Regierungskoalition ist äußerst instabil, und der jüngste Popularitätsschub der AfD hat die Gestaltung der Regierungspolitik zusätzlich erschwert. Erhebliche Meinungsverschiedenheiten gibt es zum Beispiel bei der Finanzierung der deutschen Industriepolitik, auch wenn sich alle Parteien für eine stärkere Förderung der Energiewende und strategisch wichtiger Industrien auszusprechen scheinen.

Die wichtigsten Implikationen für Anleger

Wie ich in meinem jüngsten Artikel dargelegt habe, bin ich hinsichtlich der langfristigen Aussichten für Europa positiv gestimmt. Die Herausforderungen der Deglobalisierung, der Arbeitskräftemangel und die Komplexität der Energiewende schaffen jedoch ein schwieriges Umfeld für europäische Unternehmen. 

Dennoch glaube ich, dass es in diesem Umfeld auch eine Reihe von Gewinnern geben wird. Dazu gehören Unternehmen, die die Energiewende vorantreiben, aber auch solche, die in strategisch wichtigen Branchen wie zum Beispiel der Halbleiterindustrie tätig sind. Diese Unternehmen dürften von einem starken regulatorischen und politischen Rückenwind profitieren. Darüber hinaus sollte der Arbeitskräftemangel zu erheblichen Investitionen in Automatisierung und Effizienz führen, was wiederum deutliche Produktivitätssteigerungen mit sich bringen könnte. 

Der Rechtsruck in Europa könnte, wenn er sich fortsetzt, die Situation weiter komplizieren und hat mehrere wichtige Auswirkungen.

  • Auch wenn die extreme Rechte ihren Wahlkampf nicht mehr auf eine Anti-EU-Plattform ausrichtet, wird die Entscheidungsfindung auf EU-Ebene weniger kohärent und langsamer werden.
  • Die zumindest vorübergehende Normalisierung der Gaspreise könnte es Rechtspopulisten erleichtern, einige der teureren klima- und nachhaltigkeitsbezogenen Maßnahmen zurückzufahren, was die Energiewende weiter erschweren würde. 
  • Die Zuwanderung könnte sich schwieriger gestalten, was den angespannten europäischen Arbeitsmarkt zusätzlich belasten würde. 
  • Theoretisch könnte die Wirtschaftspolitik die Unternehmen unterstützen, da viele rechte Parteien eine kleinere Regierung und weniger Bürokratie versprechen. In der Praxis könnte dies jedoch zu einer weniger kohärenten Politik führen, die die Fähigkeit Deutschlands und Europas untergraben könnte, im Zeitalter der Deglobalisierung wettbewerbsfähig zu bleiben und sichere Investitionen zu sichern. 
  • Im Bereich der Außenpolitik könnte die Unterstützung für die Ukraine nachlassen. In den letzten zehn Jahren haben mehrere Parteien am rechten Rand in Europa ihre Unterstützung für das Regime des russischen Präsidenten Wladimir Putin zum Ausdruck gebracht. Auch wenn das Auftreten gegenüber Russland seit der Invasion selbstbewusster geworden ist, sind viele rechte Parteien laut einer aktuellen Studie der LSE1 weiterhin erstaunlich offen für russische Interessen.

Aus Anlegersicht sollte man sich meiner Meinung nach sich vor diesem Hintergrund auf weitere Stolpersteine einstellen, da die zukünftige Entwicklung schwieriger zu vorherzusehen ist. Allerdings sollte man auch nach längerfristigen Chancen Ausschau halten, die sich aus dem laufenden Anpassungsprozess in der Region ergeben. 

1 Adam Holesch und Piotr Zagórski (2023), „Toxic friend? The impact of the Russian invasion on democratic backsliding and PRR cooperation in Europe“, West European Politics, 46:6, 1178 – 1204. 

Experte

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Nicolas Wylenzek

Macro Strategist