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Globaler Konjunkturausblick 2023

Weshalb Europa 2023 für eine Überraschung sorgen könnte 

Eoin O'Callaghan, Macro Strategist
John Butler, Macro Strategist
2023-12-31
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2023 Global Economic Outlook

Die zum Ausdruck gebrachten Ansichten sind diejenigen der Autoren zum Zeitpunkt der Verfassung dieses Dokuments. Andere Teams können andere Ansichten vertreten und andere Anlageentscheidungen treffen. Zukunftsgerichtete Aussagen sollten nicht als Garantie oder Vorhersage zukünftiger Ereignisse betrachtet werden. Von externen Anbietern stammende Daten werden zwar als verlässlich erachtet, doch gibt es keine Garantie für ihre Richtigkeit. Nur für professionelle, institutionelle oder zugelassene Anleger.

Dies ist ein Auszug aus unserem Investmentausblick 2023, in dem Spezialisten aus verschiedenen Bereichen unserer Investmentplattform ihre Einblicke in die Wirtschafts- und Marktkräfte vorstellen, die aus unserer Sicht die Entwicklung von Portfolios im kommenden Jahr beeinflussen werden. Bei diesem Beitrag handelt es sich um ein Kapitel aus unserem globalen Konjunkturausblick.

Der Ausblick für Europa im Jahr 2023 hat sich eingetrübt. Wie hoch das Wachstum im kommenden Jahr ausfallen wird, lässt sich allerdings kaum vorhersagen. Es bestehen klare Verlustrisiken, aber auch Chancen auf positive Überraschungen. Sofern es nächstes Jahr nicht zu einer tiefen Rezession kommt, dürfte sich die Inflation als wesentlich höher und hartnäckiger erweisen als derzeit von der Europäischen Zentralbank (EZB) angenommen. Dies deutet darauf hin, dass das Risiko eines länger andauernden Zinserhöhungszyklus größer ist, als vom Markt derzeit eingepreist wird. Im Vereinigten Königreich hat die neue Regierung mit einem vernünftigeren Haushaltsplan für mehr Stabilität gesorgt. Die strukturellen Probleme des Landes – niedriges Wachstum, erhebliche außenwirtschaftliche Ungleichgewichte und eine hohe Inflation – sind aber nach wie vor ungelöst.

Ein schwächerer Ausblick mit einem breiten Spektrum möglicher Entwicklungen

Auf der negativen Seite wird der durch die höheren Energiepreise verursachte Handelsschock das BIP um schätzungsweise 3% – 4% belasten. Gleichzeitig hat der starke Druck auf die Realeinkommen der privaten Haushalte und die Gewinnspannen der Unternehmen die Stimmung auf den tiefsten Stand seit der globalen Finanzkrise 2008/2009 gedrückt. Wir gehen davon aus, dass der Euroraum bis zum Jahresende in eine leichte Rezession abgleiten und das BIP im Jahr 2023 um 0,5% schrumpfen wird.

Die Energieversorgung wird auch im nächsten Jahr ein erhebliches Risiko darstellen. Dank der starken Nachfragereaktion auf die höheren Preise und den milden Winterbeginn ist das Risiko einer Gasrationierung in den nächsten Monaten deutlich gesunken. Das neuerliche Auffüllen der Gasvorräte für den nächsten Winter wird sich jedoch als schwierig erweisen – vor allem, wenn die chinesische Wirtschaft im kommenden Jahr wieder vollständig geöffnet wird und das Land mit Europa um Flüssiggaslieferungen (LNG) konkurrieren sollte.

Aber es besteht auch Spielraum für positive Überraschungen. Erstens sind die Finanzbedingungen nicht sonderlich angespannt. Der fiskalpolitische Impuls dürfte in weiten Teilen Europas im Jahr 2023 positiv bleiben, ganz im Gegensatz zu den meisten übrigen Industrieländern. Seit Beginn des Jahres 2022 haben die Regierungen Unterstützungsmaßnahmen für die privaten Haushalte und Unternehmen in Höhe von umgerechnet fast fünf Prozentpunkten des BIP angekündigt. Zudem dürfte das Konjunkturprogramm NextGenerationEU (NGEU) im nächsten Jahr wohl ausgeweitet werden. Zweitens lassen sich in Europa nach wie vor Bereiche mit Nachholbedarf sowohl in Bezug auf die Nachfrage als auch die Produktion ausmachen. Die Auftragsbücher sind weiterhin so gut gefüllt wie nie zuvor, und die mehr oder weniger unfreiwillig angehäuften Ersparnisse der privaten Haushalte, die freigesetzt werden könnten, entsprechen sechs Prozentpunkten des BIP. Drittens funktioniert der Kreditkanal erstmals seit mehr als einem Jahrzehnt wieder gut, wobei die Nettokreditvergabe an den privaten Sektor monatlich etwa einen halben Prozentpunkt des BIP ausmacht.

Risiken in Bezug auf die immer noch unterschätzte Stärke der Inflation und einen höheren Höchstzinssatz

Durch den sprunghaften Anstieg der Energiekosten ist die Inflation im Euroraum in diesem Jahr auf fast 11% gestiegen. Damit liegt sie deutlich über dem höchsten jemals zuvor verzeichneten Niveau und bei mehr als dem Fünffachen des von der Zentralbank vorgegebenen Ziels. Da die Lage auf dem LNG-Markt weiterhin angespannt bleiben dürfte, gehen wir davon aus, dass die Energieinflation der Region in den kommenden Jahren höher bleiben wird als in anderen Teilen der Welt. Der Anstieg der Inflation in Europa ist jedoch nicht allein auf die Entwicklung der Rohstoffpreise zurückzuführen. Die Kerninflation ist auf 5% gestiegen und liegt nun bei Betrachtung der kurzfristigen Kennzahlen für die Inflationsdynamik über der US-Inflation. Wir gehen davon aus, dass diese Dynamik anhalten wird. Die Inflation dürfte in Europa deutlich höher ausfallen als in den letzten 10 bis 15 Jahren und könnte durchaus auch oberhalb des Durchschnitts der übrigen Industrieregionen liegen. Der Arbeitsmarkt ist so angespannt wie nie zuvor (Abbildung 1) und unsere Frühindikatoren deuten darauf hin, dass das Lohnwachstum in den kommenden Quartalen auf 5% bis 6% steigen könnte.

Abbildung 1
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Zudem hat die deflationäre Anpassung in den Peripherieländern, die die Inflation im Euroraum in den letzten zehn Jahren gebremst hatte, inzwischen ein Ende gefunden: Die inländische Inflation ist erstmalig seit 2012 über die Kerninflationsrate gestiegen und dürfte im Laufe der Zeit durch die Ausgaben im Rahmen des NGEU-Konjunkturprogramms weiter angekurbelt werden.

Die Markterwartungen, wie hoch die EZB ihren Leitzins anheben wird, sind inzwischen deutlich gestiegen. Aber wenn wir unseren Wachstums- und unseren Inflationsausblick zusammenführen und eine einfache Taylor-Regel anwenden (diese besagt, dass zur Dämpfung der Inflation der Realzins entsprechend steigen muss), wird für den Euroraum ein Höchstzinssatz von 5% bis 6% erforderlich sein. Eingepreist ist bislang aber ein Höchstsatz von lediglich 3%. Anders formuliert: Ohne diese Zinserhöhungen wäre im nächsten Jahr ein starker Rückgang des BIP um rund 6% erforderlich, um die Inflation wieder auf das Ziel von 2% zu senken. Die Entwicklung wird alles andere als geradlinig verlaufen: Im Gegensatz zur US-Notenbank Fed konzentriert sich die EZB nicht allein auf ihr Inflationsziel. Vielmehr achtet sie auch darauf, eine unkontrollierte Ausweitung der Spreads in den Peripherieländern zu verhindern. Daher ist es gut möglich, dass die EZB Anzeichen einer Stabilisierung abwartet, bevor sie eine weitere Anhebung ihrer Zinsen in Betracht zieht. Aber die fundamentale Entwicklung der Inflation spricht eindeutig für einen wesentlich höheren Höchstsatz zum Ende des Zinserhöhungszyklus.

Anfällige Bereiche

Die EZB dürfte ihre Bilanzsumme im Jahr 2023 schneller abbauen als die Bank of England und die Fed, wenn die Kredite im Rahmen ihrer gezielten längerfristigen Refinanzierungsgeschäfte (TLRO) auslaufen und Anfang 2023 die quantitative Straffung einsetzt. In Kombination mit den umfangreichen Emissionsplänen dürfte dies die Laufzeitprämien im kommenden Jahr weiter in die Höhe treiben. An den europäischen Märkten sehen wir zwei Bereiche, die höher verschuldet sind und daher in dieser Hinsicht anfällig erscheinen. Da gibt es zum einen Italien, wo die staatliche Verschuldung inzwischen bei mehr als 150% des BIP liegt. Die neue Regierung hat zwar einen relativ vernünftigen ersten Haushalt vorgelegt, es besteht jedoch das Risiko, dass die Schulden höher als erwartet ausfallen. Die Energiesubventionen wurden bislang nur um ein einziges Quartal verlängert. Sollten die Energiepreise also hoch bleiben, würde die Regierung unter Druck geraten, sie über einen längeren Zeitraum hinweg aufrechtzuerhalten. Der zweite Bereich, der Anlass zur Sorge gibt, betrifft die hohe Verschuldung privater Haushalte in den skandinavischen Ländern. Diese dürfte die Wachstumszyklen in Schweden und Norwegen im Vergleich zu anderen Ländern bremsen und das Risiko einer drastischen Abwärtskorrektur der Immobilienpreise in beiden Ländern erhöhen. Erste Anzeichen für eine solche Entwicklung lassen sich bereits in Schweden ausmachen. Außerdem impliziert dies die Notwendigkeit einer Abwertung der Währungen, da sich beide Volkswirtschaften weg von einem von der Binnennachfrage getragenen Wachstum entwickeln.

Dem Vereinigten Königreich steht ein steiniger Weg bevor

Die britische Wirtschaft scheint zu Beginn des Jahres 2023 ebenfalls anfällig für weitere Schwierigkeiten. Die Regierung unter Liz Truss war dank ihres „Mini-Budgets“ – eines umfangreichen Haushaltspakets, das schlecht geplant, kommuniziert und umgesetzt wurde – außergewöhnlich kurzlebig. Im Kern hatte der gescheiterte Mini-Haushalt jedoch versucht, zwei strukturelle Probleme anzugehen, mit denen das Vereinigte Königreich schon seit langem zu kämpfen hat: Seit der Finanzkrise 2008 ist praktisch kein Produktivitätswachstum mehr zu verzeichnen, und die Investitionsausgaben sind seit 2016 gleichbleibend oder rückläufig (Abbildung 2).

Abbildung 2
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Unter der neuen Regierung und mit einem radikal anderen Haushalt hat die Fiskalpolitik die im September angekündigte Lockerung um 9% des BIP vollständig rückgängig gemacht. Dies hat zwar die unmittelbaren Bedenken des Marktes zerstreut, die politischen Entscheidungsträger müssen sich dort nun jedoch mit einer zweistelligen Inflation, einem äußerst angespannten Arbeitsmarkt (der vor allem durch das schrumpfende Angebot bedingt ist, da immer mehr Menschen aus strukturellen Gründen wie Langzeiterkrankungen aus dem Erwerbsleben ausscheiden) und einem beschleunigten Lohnwachstum auseinandersetzen. Da die Bank of England gezeigt hat, dass sie sehr empfindlich auf negatives Wirtschaftswachstum reagiert, könnte dies dazu führen, dass der Zinserhöhungszyklus nicht so weit geht, wie erforderlich wäre, um die Inflation wieder auf das Zielniveau zu bringen. Dies könnte für die britische Währung eine Herausforderung darstellen, besonders wenn sich eine lange Rezession abzeichnet. Letztendlich würde dies den bestehenden Inflationsdruck nur noch zusätzlich verstärken.

Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass wir mit einem nach wie vor volatilen Konjunkturzyklus in Europa rechnen, bei einem sehr breiten Spektrum möglicher Ergebnisse. Außerdem gehen wir davon aus, dass die Inflation auf einem unangenehm hohen Niveau verharren wird.

Experten

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Eoin O'Callaghan

Macro Strategist
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John Butler

Macro Strategist